Die Geschichte der Sektion als Chronologie

1887 Gründung der Sektion durch 18 „Alpenfreunde“
1895 Eröffnung der „Casseler Hütte“ im Riesenfernergebiet
1910 Anlässlich der Eröffnung eines alpinen Weges erstmalig Erwähnung einer Gruppe weiblicher Sektionsmitglieder
1919 Im Rahmen der Abtretung Südtirols an Italien Verlust der Casseler Hütte
1927 Eröffnung der Neuen Kasseler Hütte in den Zillertaler Alpen, ca. 20km Luftlinie von der alten Hütte (Verlinkung „Hütte“)
1933 – 1945 Zunehmende Gleichschaltung des Vereins im Rahmen des Nationalsozialismus – wieweit dies aktiv vom Verein mitgetragen wurde ist unklar. Dies beinhaltete eine „Arierklausel“ in der Satzung, die Verpflichtung auf die Ziele des Regimes als „Vereinszweck“ und die Einschränkung der vereinsinternen Demokratie
1946 Nach Verbot des Vereins als „Naziorganisation“ durch die amerikanische Verwaltung Neugründung des „Alpenvereins Kassel“
1955 Mitgliederzahl überschreitet die 1000er Marke!
1958 Herausgabe eines vierteljährlichen  Mitteilungsheftes als Vorläufer der heutigen „Sektionsmitteilungen“
1969 Der Verein differenziert sich immer mehr in verschiedene Interessengruppen und bildet damit die Vielfalt alpiner Aktivitäten ab – exemplarisch in diesem Jahr die Gründung der Bergsteigergruppe (Verlinkung „Gruppen“)
1981 Mit der Anmietung von Räumen in der Friedrichstr. gibt es erstmalig eine Geschäftsstelle als Anlaufpunkt für Gruppen und Mitglieder
1992 Mit dem Beitritt des DAV Hauptverbandes zum Deutschen Sportbund ist die Sektion auch Mitglied des Landessportbundes
1999 Beteiligung an der Kletterhalle „Vertical World“ in der Lilientalstraße
2000 Erster Internetauftritt des Vereins „www.alpenverein-kassel.de“
2003 Mitgliederzahl erstmalig 3000!
2005 Umzug der Geschäftsstelle in ein angemietetes Gebäude im Glöcknerpfad
2007 Abspaltung einer zweiten Alpenvereinssektion (ACK Kassel), Beendigung der Kooperation mit der Vertical World und Beschluss zum Bau einer eigenen Halle
2009 Eröffnung des Kletterzentrums Nordhessen (Verlinkung „Kletterzentrum“)
2012 Feier zum 125jährigen Bestehen der Sektion, die Mitgliederzahl beläuft sich inzwischen auf mehr als 4400! (Verlinkung Festschrift)
2017 Erweiterung des Kletterzentrums durch einen großzügigen Boulderbereich
2017 Wechsel der Geschäftsstelle in die Räume des Kletterzentrums und damit Konzentration des Vereinsgeschehens an einem Ort

Studienrat Dr. Otto Hess: Ein jüdischer Bergsteiger in unserer Sektion

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Es wird nicht viele Mitglieder der Sektion Kassel geben, die jemals die Kasseler Spitze in den Zillertaler Alpen bestiegen haben. Diese Felspyramide, gut zwei Kilometer südlich der Kasseler Hütte im Zillertaler Hauptkamm zwischen Grüner Wand und Keilbachspitze gelegen, zählt halt nicht zu den Klassikern der Zillertaler Alpen, zudem fehlen ihr genau 43 Höhenmeter an den begehrten Dreitausend.

Bei der Erbauung der Kasseler Hütte sei diese Spitze so benannt worden[1], sagt der Alpenvereinsführer „Zillertaler Alpen“. Für den alpinistischen Normalverbraucher ist die Besteigung nicht so ganz einfach, wird doch der Anstieg über die Ostflanke mit Schwierigkeitsgrad II angegeben, der Anstieg von Nordosten mit III, der Direkte Nordost-Grat mit IV und der Nordnordwest-Grat sogar mit V–.

In der Sektion Kassel ist man stolz auf die Heraushebung der neuen Hütte am Stilluppkees mit dem ‚höchsten Gipfel Kassels‘, vermeldet doch der Hüttenbericht der Sektion für das Jahr 1932:

„Der Zeitschrift[2] liegt außerdem die neue Karte der Oestl. Zillertaler Alpen im Maßstab 1:25000 bei, in deren Mitte unsere Hütte mit allen neuen Wegen zu finden ist. In der Karte ist auch der höchste Punkt des Felsgrates, welcher den Stilluppgletscher in der Richtung nord/süd durchschneidet, zum ersten Mal als „Kasseler Spitze“ bezeichnet, so benannt von einem ihrer Erstersteiger, Herrn Dr. Hess, der demnächst eine Veröffentlichung über diesen Gipfel vorzunehmen beabsichtigt“.[3]

Schon im Hüttenbericht von 1928 war festgehalten worden:

„Von Herrn Dr. Hess wurde ein Tourenbuch gestiftet, in welchem alle bemerkenswerten Ersteigungen Aufnahme finden sollen. Als solche ist z.B. die schwierige Ersteigung der Kasseler Spitze über den Nordgrat[4] zu erwähnen, welche durch Herrn v. Ditfurt und Herrn Dr. Hess in diesem Jahre ausgeführt wurde“.[5]

Wer war dieser Dr. Hess?

Otto Hess wurde am 24. März 1882 in Kassel geboren. Sein Vater war der Mühlenbesitzer Joseph Heß aus Rotenburg, der am 13. Mai 1881 Fanny Wertheim aus Breitenbach bei Bebra in Kassel geheiratet hatte und wahrscheinlich in diesem Jahr nach Kassel gezogen war. Mitglied in der Sektion Kassel war Joseph Heß seit 1901.[6] Über Ottos Jahre als Kind und Jugendlicher ist bis jetzt nur wenig bekannt. Er besuchte das Friedrichsgymnasium in Kassel, an dem er im Jahr 1900 die Reifeprüfung ablegte. Danach studierte er Mathematik, Physik und Chemie in Heidelberg, München, Berlin und Marburg und promovierte – wahrscheinlich in Marburg – zum Thema „Über die Demonstration der Wärmeleitung in Platten“. Am 2. Februar 1906 legte er in Marburg die Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen ab. Das Seminarjahr leistete er an der Klinger-Oberrealschule in Frankfurt am Main ab, das Probejahr am Realgymnasium in Kassel. Seit Ostern 1908 war er an der Oberrealschule II in Kassel tätig, zunächst als Wissenschaftlicher Hilfslehrer, ab 1909 als Oberlehrer und später als Studienrat. Nach den Meldeunterlagen der Stadt Kassel[7] war seine letzte Wohnung im 2. Stock des Hauses Kirchweg 72 gewesen.

Dr. Otto Hess war der einzige jüdische Lehrer an der Oberrealschule II[8], dem heutigen Goethegymnasium in Kassel. Wilhelm Merbach, ein Schüler von ihm, erzählt:

„Otto Hess stellte bei Klassenarbeiten seinen Stuhl auf das Katheder und kletterte dann hoch, um dort oben Zeitung zu lesen. Erst später bemerkten wir, daß er ein kleines Loch in die Zeitung gemacht hatte, um uns beobachten zu können.“[9]

Ein anderer Schüler, aus dem Abiturjahrgang 1935, berichtet:

„An der Schule war auch ein jüdischer Lehrer tätig. Nach seinem Vornamen nannten wir ihn Onkel Otto. Er hatte den gleichen Nachnamen wie einer der engsten Vertrauten Hitlers.[10] Im Weltkrieg war er Offizier gewesen und mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse ausgezeichnet worden. Er war einer der beliebtesten und fürsorglichsten Lehrer der Schule und wurde von seinen Kollegen und Schülern als sehr befähigter Pädagoge hoch geschätzt. Obwohl sofort nach der Machtübernahme Hitlers im Unterricht die nationalsozialistische Rassenlehre mit ihrer Verteufelung der sogenannten jüdischen Rasse einen breiten Raum einnahm, durfte Onkel Otto seinen Unterricht weiterführen, allerdings von den meisten seiner Kollegen gemieden und von fast allen anderen nur mit kalter, förmlicher Höflichkeit behandelt.“[11]

Das Jüdische Gemeindeblatt Kassel beschreibt ihn folgendermaßen:

„Otto Heß, dem die glänzendste akademische Laufbahn offenstand, nachdem er bei Abschluß seiner Studien das Examen in Mathematik, Physik und Chemie mit „Auszeichnung“ bestanden hatte, zog es vor, Oberlehrer zu werden, um bescheiden – in Reih und Glied – aus dem Schatz seines reichen Wissens seinen Schülern kostbare Gabe zu geben; junge Schüler sind scharfe Kritiker; sie erkennen sehr schnell menschliche Schwächen eines Lehrers; aber sie fühlen auch instinktiv den Wert und Charakter eines ungewöhnlichen Menschen. So ging es bei Otto Heß. Seine Schüler liebten ihn, noch nach Jahren kamen sie in ihren Nöten und Sorgen zu ihm, um ihn um seinen Rat zu bitten; sie wußten, daß sie nicht vergeblich kamen.“[12]

Und es wird weiter ausgeführt:

„Freundschaft aus den Schuljahren hatte Otto Heß bis zu seinem Lebensende gehalten und diese Freundschaft wurde in gleicher Weise erwidert. Wie so viele wertvolle, nachdenkliche Menschen liebte Otto Heß die Einsamkeit, weil er Befriedigung fand am Reichtum seiner inneren Natur. Er war ein bekannter Bergsteiger; ein „Einzelgänger“, wie der technische Ausdruck lautet; manche schwierigen Bergbesteigungen sind durch ihn ausgeführt worden.“[13]

In den Dokumenten der Sektion Kassel des DuOeAV aus den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts taucht sein Name immer wieder auf. Im Mitgliederverzeichnis des Jahres 1931 ist vermerkt, dass er seit 1911 Mitglied war. Im Hüttenbuch der alten Kasseler Hütte im Rieserferner-Gebiet ist er für den Zeitraum vom 18. bis 20. Juli 1912 eingetragen und bemerkt:

„40 Stunden lang auf besseres Wetter gewartet, es wurde aber immer schlechter.“[14]

Sein Name findet sich in Anwesenheitslisten bei Hauptversammlungen, in Jahresberichten als Mitglied des Hüttenausschusses – ab 1927 – und vor allem auch in Hütten- und Tourenberichten. So gibt er wertvolle Hinweise zum Wegebau[15] und zur Anlage von Steigen für Gipfelanstiege[16]. 1926 hält er zudem einen Vortrag mit Lichtbildern über die Stillupp, das Gebiet der neuen Hütte der Sektion.[17]

Hess war also schon vor dem Bau der Hütte, der Mitte Juli 1926  begonnen wurde, im Stilluppgebiet unterwegs gewesen, in dem der Bauplatz für die neue Kasseler Hütte bereits 1921 gefunden worden war. In der Beschreibung des „Arbeitsgebiets“ Stillupp  in der Festschrift 1927 wird erwähnt, dass die Erstbesteiger der Hinteren Stangenspitze die Neigung einer Schneerinne, die sie im Aufstieg zu einem der  Vorgipfel durchsteigen mussten, auf 60° geschätzt hatten,

„(was aber nach Meinung unserer Mitglieder, Dr. Heß und Jung, die am 21. Juli 1925 auf diesem Weg die Hintere Stangenspitze bestiegen, übertrieben ist)“[18].

Laut Eintragungen in die Hüttenbücher besucht Hess die Kasseler Hütte in den Jahren 1927 bis 1930 und dann nur noch 1932. Ende August 1927 trägt er ein:

„Durchs Eiskar, Löfflerkar zur Lapenscharte, 28. und 29. schlechtes Wetter. Der Hüttenwirt muss für besseres Wetter sorgen.“[19]

Schon 1928 wurde ein  „dienstlicher“ Besuch der Hütte nötig:

„Im Mai 28 unternahm Herr Dr. Hess, der sich freundlicher Weise dazu erboten hatte, eine Reise zur Kasseler Stillupphütte, um die Schäden, die dort durch Einbruch im Winter 27/28 entstanden waren, festzustellen.“[20]

Am 23. Juli 1928 ist seine Tour auf die Kasseler Spitze eingetragen, wahrscheinlich am nächsten Tag die Roßwandspitze. Der Aufenthalt vom 3. bis 5. August 1932 trägt den Vermerk „Dienstlich“, Hess war als Mitglied des Hüttenausschusses dort gewesen.

Auch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten bleibt Hess als Mitglied des Hüttenausschusses im erweiterten Vorstand der Sektion. Noch 1933 sieht man seinen Namen auf der Anwesenheitsliste der Hauptversammlung, später nicht mehr. Auf der Hauptversammlung von 1935 erfährt er eine Ehrung für langjährige Mitgliedschaft:

„Darauf überreichte Herr Dr. Wegner[21] das Edelweiß für 40jährige Mitgliedschaft …

während das Edelweiß für 25jährige Mitgliedschaft

Herrn Ober-Reg. Rat Dr. Dormann, Potsdam

Studienrat Dr. Hess, Kassel

verliehen werden konnte, die aber beide am Erscheinen verhindert waren.“[22]

Vermutlich wurde ihm die Auszeichnung im Laufe des folgenden Jahres  überreicht, denn der am

  1. Dezember 1936 vom Vorstand bei der Hauptversammlung vorgelegte Jahresbericht führt noch einmal die Verleihung des Edelweiß für 25-jährige Mitgliedschaft an Studienrat Dr. Otto Hess, Kassel auf.[23]

Im Sommer 1937 begibt sich Hess nach Südtirol, um in Sulden[24] Urlaub zu machen. Von Sulden wechselt er nach Meran, wo er im Hotel Esperia absteigt. Am 27. August verlässt er das Hotel, nachdem er dem Portier eine Karte von Hafling[25] in der Nähe von Meran gezeigt und ihm mitgeteilt hatte, er wolle eine Besteigung der Ifinger-Spitze[26] vornehmen.[27] Von diesem Ausflug kehrt Otto Hess nicht zurück.

Seinem Bruder Ernst hatte Otto Hess von seinem Vorhaben, nach Meran zu gehen, erzählt. Als der Bruder, der sich zu der Zeit in Rom aufgehalten hatte, dann keine Nachricht mehr von Otto erhalten hatte, reiste er voller Sorge nach Meran und fand dort das Gepäck seines Bruders noch im Hotel vor. Von seinem Bruder fehlte aber jede Spur.[28]

Ernst Hess erstattete dann eine Vermisstenanzeige mit Personenbeschreibung, die in den Zeitungen Südtirols und auch im Radio veröffentlicht wurde und setzte eine Belohnung von 500 Lire für sachdienliche Hinweise zum Auffinden seines Bruders aus.[29] Gleichzeitig setzte er umfangreiche Nachforschungen durch Bergführer in Gang, jedoch ohne dass eine Spur seines Bruders gefunden worden wäre. Das einsetzende schlechte Wetter erschwerte zudem die Suche. Hinzu kamen Überlegungen, ob Hess sich nicht vielleicht in ein anderes Gebiet begeben haben könnte.[30]

Auch die Sektion Merano des Club Alpino Italiano (C.A.I.) rief alle Bergfreunde dazu auf, sich an der Suche nach dem Vermissten zu beteiligen.

Es ist zu vermuten, dass das Hotel  schon bald nach dem Verschwinden von Hess eine Suchaktion in Gang gesetzt hatte, denn die Alpenzeitung berichtet über die Bergsteiger, die die Leiche von Hess später geborgen haben:

„Die beiden Brüder Hillebrand, Wegleiter und Pichler hatten sich aber schon an den ersten Tagen auf die Suche gemacht und die Wände des Ivigna mit allen ihren Rissen und Schluchten durchquert, keine der vielen Schluchten außer acht lassend, in denen der Schnee schon eine beträchtliche Höhe   erreicht hatte.“[31]

In der Hauptversammlung der Sektion Kassel Ende 1937 wird das Verschwinden von Otto Hess den Mitgliedern mitgeteilt:

„[Studienrat Dr. Otto Hess ist von seiner letzten Bergtour nicht zurückgekehrt. Alle Nachforschungen waren bisher ergebnislos, so daß damit zu rechnen ist, daß er das Opfer eines Unglücksfalles geworden ist. Hoffen wir, daß man früher oder später doch noch Gewißheit über sein Schicksal erhält.]“[32]

Und der Jahresbericht für 1937 führt auf:

„Durch den Tod wurden der Sektion folgende Mitglieder entrissen:

8) Studienrat Dr. O. Hess wird seit seiner letzten Bergtour vermisst; es ist mit Sicherheit mit seinem Ableben zu rechnen.“[33]

Das Provinzialvorsteheramt der Israeliten zu Kassel teilt diese Nachricht den Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde folgendermaßen mit:

„Am 27. August 1937 ist Studienrat Dr. Otto Heß, Vorsitzender des Provinzialvorsteheramtes der Israeliten zu Kassel, von einer Bergtour, die er von Meran aus unternommen hatte, nicht mehr zurückgekehrt. – Wochenlange Nachforschungen nach seinem Verbleib, die mit Hilfe bekannter Bergführer und in Anwesenheit eines seiner Brüder unternommen wurden, blieben ohne Ergebnis.  – Über dem letzten Schicksal von Otto Heß waltet das Geheimnis; nach menschlichem Ermessen ist mit seiner Rückkehr nicht mehr zu rechnen. Die Zurückgebliebenen müssen sich damit abfinden, daß die Trennung, die nur ein Abschied für einen Erholungsurlaub schien, der letzte und endgültige Abschied von ihm war.“[34]

Im Juni 1938 wird der Vermisste tot aufgefunden. Die Dolomitenzeitung berichtet:

„Zwei tüchtige Felskletterer unserer Stadt stießen bei einer Klettertour im Ivigna-Gebiet am letzten Sonntag um 8 Uhr früh aus reinem Zufall auf die Leiche des seit September vorigen Jahres vermißten 55jährigen Studienrates Dr. Otto H e ß aus Deutschland.

Die Kletterer waren am Sonntagmorgen vom Gipfel der großen Ivigna-Spitze auf dem Grat weiter gegen Norden zum Nordgipfel geklettert und sahen nach etwa 30 Metern knapp unter dem Grat   einen Eispickel  liegen. Nicht weit davon, wieder etwas tiefer lag ein Hut mit dem Edelweiß des deutschen Alpenvereines und noch etwas tiefer wurden ein Paar Augengläser mit ihrem Behälter gefunden. Durch diese überraschenden Funde aufmerksamer gemacht, kletterten die Bergsteiger tiefer hinunter und fanden nun an der Stelle, wo die gegen den Anstieg der Westwand des Ivigna hin …nde Schlucht am engsten wird, die Leich. … abgestürzten Touristen, der noch die …patschen an den Füßen hatte. Etwa d… …r oberhalb des Abgestürzten befand s… Rucksack mit den             daraufgebundenen Bergschuhen des Verunglückten. Die Leiche des Verunglückten, die seit September dort lag, war nur etwa einen halben Meter vom Absturz der Westwand entfernt. Noch ein Stück weiter und sie wäre über  die Westwand hinunter ins Nordkar abgestürzt, wo auch die Nachforschungen hauptsächlich durchgeführt wurden.“[35]

Der Abtransport gestaltet sich sehr schwierig. So schreibt der Volksbote:

„Da die Leiche an einer sehr unzugänglichen Stelle lag, haben sich die Bergungsarbeiten verzögert. Gestern, 22. Juni, um 13 Uhr brachten die Träger des C.A.I., die Gebrüder H i l l e b r a n d, weiters der Iffinger T o n i und der Wirt der Ivigna-Hütte, P i c h l e r Josef, die Leiche nach Scena[36], wo sie vom Podesta[37] der Gemeinde, C. M. B r a c c e s i Bernardo, vom Kommandanten der dortigen Carabinieristation, von Dr. C a s a r i, der sich bereits am Tage zuvor in amtlicher Eigenschaft zum Fundplatz begeben hatte, vom Leiter der Meraner Sektion des C.A.I. und anderen Herren erwartet wurde.

Die Leiche des abgestürzten Alpinisten ruht nun, umgeben von brennenden Kerzen, in einer bereitgestellten Totenkammer des Versorgungshauses in Scena.

Die Bergung war ein sehr schwieriges Unternehmen. Die Leiche des Verunglückten mit zirka 70 Kilo Gewicht mußte auf den Gipfel hinaufgebracht und dort erst abgeseilt werden. Im Schutzhaus wurde dann ein primitiver Sarg zurechtgezimmert, um die sterblichen Überreste aufzunehmen.

Die Leiche bleibt vorläufig in Scena, wird aber später nach Deutschland überführt.“[38]

An das Schicksal von Hess erinnern sich ehemalige Schüler von ihm. Während Hess noch 1935 als Prüfer auf den Abiturzeugnissen erscheint, sei er kurz danach aus dem Schuldienst entfernt worden.

In der Festschrift „Goetheschule Kassel“ aus dem Jahr 1959 wird

„die Entfernung des uns allen – Lehrern wie Schülern – lieben Dr. Otto Hess aus dem Lehramt wegen seiner Abstammung (S. 94) bedauert, und es wird berichtet, er sei bald danach bei einer Seiltour im Hochgebirge abgestürzt.“[39]

Heiner Karsten stellt das so dar:

„Onkel Otto kam nach den Sommerferien[40] nicht mehr zur Schule zurück. Er war schon immer ein sportlich bestens durchtrainierter Bergsteiger gewesen. Wie verlautete, soll er bei einer Bergtour abgestürzt sein. Gerüchte besagten, er habe seinem Leben freiwillig durch den Sturz in die Tiefe von           einem Gipfel ein Ende gemacht.“[41]

Heinrich Borg, ein Klassenkamerad von Karsten, bestätigt, dass Hess nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Kollegium isoliert gewesen war.[42]

Karsten sieht das auch so:

„Der Tod Onkel Ottos wurde offensichtlich von den meisten seiner Kollegen mit Erleichterung zur Kenntnis genommen. Man hielt es nicht einmal für nötig, diesen Tod in einer der regelmäßig stattfindenden Schulandachten zu erwähnen, was sonst beim Tod eines Lehrers in Form einer Gedächtnisstunde  selbstverständlich war.“[43]

Zum Auffinden von Hess im Juni 1938 schreibt das Jüdische Gemeindeblatt:

Dr. Otto Heß gefunden!

„Die Angehörigen des Studienrats Dr. Otto Heß, über dessen Vermißtsein wir im vorigen Jahre in diesem Blatte berichteten, bekamen auf telegrafischem Wege die Mitteilung aus Meran, daß der Leichnam desselben am Iffinger Berg bei Meran gefunden wurde.

Auf telefonischen Anruf des in Frankfurt wohnenden Bruders des Verunglückten wurde   demselben mitgeteilt, daß die sterblichen Überreste einwandfrei als die des bis jetzt vermißten Dr. Otto Heß festgestellt wurden.

Gewiß eine traurige Botschaft für die Angehörigen, aber sie bringt die Gewißheit, daß Dr. Heß durch Absturz ums Leben gekommen ist.“[44]

In einem Gespräch mit dem Autor im Jahre 1989 bezweifelte Heinrich Borg die Absturzthese:

„Ich halte es für vollkommen ausgeschlossen, dass Hess abgestürzt ist. Das war ein derart hervorragender Bergsteiger! Nein, er hat es nicht verwinden können, dass er aus dem Schuldienst entlassen worden ist. Ich bin sicher, dass er freiwillig aus dem Leben ausgeschieden ist.“

Ob diese Einschätzung richtig ist, muss zweifelhaft bleiben. Nach dem Bericht der Dolomitenzeitung sieht es einwandfrei nach einem Unfall aus:

„Dr. Heß, der nach einem Regentag die Tour unternahm, dürfte bei der Begehung des Grates mit den Kletterpatschen auf dem nassen Grasboden ins Rutschen gekommen und dann abgestürzt sein. Er fiel etwa 150 Meter tief und zog sich bei dem furchtbaren Sturz die tödlichen Verletzungen zu.“[45]

Die Meldeunterlagen der Stadt Kassel vermerken, dass er in den Bergen abgestürzt sei. Als Auszugsdatum aus der Wohnung ist der 5.7.1938 eingetragen, dahinter steht ein Kreuz.

Otto Hess ist dann doch nicht nach Deutschland überführt worden, sondern auf dem Jüdischen Friedhof von Meran beerdigt worden.

Im Jahr 1975 hat die Ortsstelle Schenna der Sektion Meran des Alpenvereins Südtirol oberhalb der Ifinger Hütte eine Gedenkkapelle für die am Ifinger verunglückten Bergsteiger errichtet, in der auch Dr. Otto Hess namentlich erscheint.

Anmerkung: In den meisten Urkunden und Quellen – auch von Vorfahren und Familienmitgliedern – wird der Nachname „Heß“ geschrieben, Ottos Unterschrift erfolgte aber immer als „Hess“.

Verfasst im Jahr 2012 anlässlich des 125-jährigen Jubiläums der Sektion Kassel des DAV

Aktualisiert am 25. Januar 2022

Andreas Skorka

[1]    Die Festschrift der Sektion Kassel 1912 bis 1926 – im Folgenden Festschrift 1927 genannt – (S. 33) nennt sie „P.2952, für den schon der Name Kasseler Spitze vorgesehen ist“ – Eine spätere Vermessung ergibt die Höhe von 2.957 m

[2]    Gemeint ist die  Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins – DuOeAV – (Jahrbuch) 1932

[3]    Hüttenbericht 1932, Archiv der Sektion Kassel des DAV – Die Erstbesteigung war aber von anderen Gruppen durchgeführt worden, nicht von Hess (s. Festschrift 1927, S. 39)

[4]    Wahrscheinlich handelt es sich um den o.a. Nordnordwest-Grat

[5]    Hüttenbericht 1928, Archiv der Sektion Kassel des DAV

[6]    Er wird in der Festschrift 1927 unter den verstorbenen Mitgliedern des Jahres 1926 aufgeführt.

[7]    Archiviert im Stadtarchiv Kassel

[8]    Die Schule wurde 1938 umbenannt in Hermann-Göring-Schule, nach dem 2. Weltkrieg in Realgymnasium Wesertor, später in Goetheschule

[9]    A. Skorka, Aus den dreißiger Jahren bis 1945, in: Goetheschule Kassel 100 Jahre. 1889-1989, S. 54

[10]  Gemeint ist der Führerstellvertreter Rudolf Heß

[11]  H. Karsten, Anstöße und Einsichten, St. Michael (Österreich) 1982, S. 39

[12]  Jüdisches Gemeindeblatt Kassel vom 18. März 1938, in: www.alemannia-judaica.de

[13]  ebenda

[14]  Hüttenbuch der Casseler Hütte, Archiv der Sektion Kassel des DAV

[15]  Hüttenbericht 1928, Archiv der Sektion Kassel des DAV

[16]  Tourenbericht 1927, Archiv der Sektion Kassel des DAV

[17]  Festschrift 1927, S. 9

[18]  Festschrift 1927, S. 38

[19]  s. 1. Hüttenbuch der Kasseler Hütte

[20]  Jahresbericht der Sektion Kassel 1928,  Archiv der Sektion Kassel des DAV

[21]  „Sektionsführer“

[22]  Protokoll der Hauptversammlung am 10.12.1935, Archiv der Sektion Kassel des DAV

[23]  Vgl. Jahresbericht 1936, Archiv der Sektion Kassel des DAV

[24]  Ital. Solda

[25]  Ital. Avelengo

[26]  Ital. Picco Ivigno

[27]  „Ein Bergwanderer vermißt. Bis jetzt keine Spur gefunden“ in: Dolomiten(zeitung) vom 20.09.1937, in: dza.tessmann.it.

[28]  „Felskletterer finden einen Vermißten im Ivigna-Gebiet“ in: Dolomiten(zeitung) vom 22.06.1038, in: dza.tessmann.it

[29]  „Ein Alpinist seit drei Wochen abgängig“ in Alpenzeitung vom 22.09.1937, in dza.tessmann.it

[30]  „Ein Bergwanderer vermißt. Bis jetzt keine Spur gefunden“ in: Dolomiten(zeitung) vom 20.09.1937, a.a.O.

[31]  „Die Leiche des verunglückten Dr. Heß in Scena eingetroffen“ in: Alpenzeitung vom 23.06.1938, in: dza.tessmann.it

[32]  Protokoll der Hauptversammlung am 14.12.1937, Archiv der Sektion Kassel des DAV. Im Protokoll stehen die Klammern, außerdem ist der Absatz einmal quer durchgestrichen.

[33]  Vgl. Jahresbericht 1937, Archiv der Sektion Kassel des DAV

[34]  Jüdisches Gemeindeblatt Kassel vom 18. März 1938, in: www.alemannia-judaica.de

[35]  „Felskletterer finden einen Vermißten im Ivigna-Gebiet“ in: Dolomiten(zeitung) vom 22.06.1938, a.a.O.  (Einzelne Worte sind in der Quelle nicht lesbar)

[36]  dt. Schenna

[37]  Der in der Zeit des italienischen Faschismus per Dekret eingesetzte Bürgermeister einer Gemeinde

[38]  „Bergung der Leiche des vermißten und abgestürzten Touristen“ in: Volksbote vom 23.06.1938, in: dza.tessmann.it

[39]  Festschrift Goetheschule Kassel, 1959, zitiert nach A. Skorka, Aus den dreißiger Jahren bis 1945, in: Goetheschule Kassel 100 Jahre. 1889-1989, S. 54

[40]  Hess ist 1935 auf Grund der Nürnberger Gesetze pensioniert worden, dem Jahr, in dem Karsten sein Abitur abgelegt hat. Es wird nicht deutlich, in welches Jahr er das Ereignis einordnet. Da der Aufsatz  wahrscheinlich Jahrzehnte später geschrieben worden ist, wird sich Karsten wohl nicht mehr genau erinnert haben.

[41]  H. Karsten, Anstöße und Einsichten, St. Michael (Österreich) 1982, S. 39

[42]  A. Skorka, Aus den dreißiger Jahren bis 1945, in: Goetheschule Kassel 100 Jahre. 1889-1989, S. 54

[43]  H. Karsten, Anstöße und Einsichten, St. Michael (Österreich) 1982, S. 39

[44]  Jüdisches Gemeindeblatt Kassel vom 24. Juni 1938, in: www.alemannia-judaica.de

[45]  „Felskletterer finden einen Vermißten im Ivigna-Gebiet“ in: Dolomiten(zeitung) vom 22.06.1938, a.a.O.

Die Sektion Kassel in der Donaulandaffäre

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Für die Zeit ab Dezember 1924 verfügt das Archiv der Sektion Kassel über Berichte und Protokolle, und gleich das erste Protokoll verzeichnet einen dürren Halbsatz über ein Ereignis, das heute als größte Krise und dunkelste Geschichte des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins bezeichnet werden kann, die sog. Donaulandaffäre:

„Nach Eröffnung der Sitzung berichtet Herr Dr. Jäckh über die a.o. H.V. im Dezember in München, auf welcher der Ausschluß der Sect. Donauland aus dem Gesamtverein beschlossen wurde und erteilt    hiernach Herrn Professor … das Wort zu seinem Lichtbilder-Vortrag.“[1]

Viele Sektionen stellen sich heute die Frage, welche Position ihre Vertreter zu den antisemitischen Bestrebungen innerhalb des Gesamtvereins eingenommen und wie sie zu seiner Rolle im aufkommenden Nationalsozialismus und während der Zeit der Diktatur gestanden hatten.

Als im negativen Sinne herausragendes Ereignis in der politischen Geschichte des DuÖAV muss das Verhalten vieler einzelner Sektionen und des Gesamtvereins gegenüber der Wiener Sektion Donauland angesehen werden. Dieser Skandal, allgemein beschönigend als Donaulandaffäre bezeichnet, soll deshalb im Folgenden so kurz wie möglich skizziert werden.[2]

Die Wiener Sektion Austria war schon im 19. Jahrhundert und vor dem 1. Weltkrieg stark antisemitisch ausgerichtet. Dem fanatischen Antisemiten Eduard Pichl gelang es im Jahr 1921, handstreichartig die Führung der Sektion zu übernehmen. Als er begann, seine Ideen vom Rassenhass – nicht nur in der Sektion – durchzusetzen, verließen jüdische und liberale Mitglieder die Sektion und gründeten die Sektion Donauland, die auch gleich – wenn auch gegen erhebliche Widerstände und mit knapper Stimmenmehrheit im Hauptausschuss – in den Gesamtverein aufgenommen wurde und schnell wuchs.

Pichl wollte mit aller Kraft diese Aufnahme rückgängig machen und einen sog. „Arierparagrafen“[3] in die Satzung des Gesamtvereins aufgenommen haben. Mit dieser Idee brachte er fast alle österreichischen Sektionen hinter sich. Viele deutsche Sektionen lehnten dies ab und gründeten im Gesamtverein zur Vertretung ihrer Interessen und Positionen einen „Verband mitteldeutscher und nordostdeutscher Sektionen“.

Ab 1922 wechseln sich in den Hauptversammlungen des Gesamtvereins Ausschlussanträge und Aufforderungen an die Sektion Donauland, den DuÖAV freiwillig zu verlassen, ab. Bei der Hauptversammlung am 04.07.1924 stehen 1.547 Delegierte hinter dieser Aufforderung, nur 110 sind dagegen.

Im November 1924 erhöhen 100 österreichische Sektionen den Druck auf die deutschen Sektionen und drohen mit einer Spaltung des Vereins, falls die Sektion Donauland nicht ausgeschlossen wird. Zur Begründung wird angeführt:

„Donauland ist wegen ihrer volksfremden Zusammensetzung und Eigenart für die Gesamtheit der österreichischen Sektionen unannehmbar. Sie bedroht das Deutschtum in den Alpenländern und

untergräbt den Bestand des Vereins …“[4]

Für den Fall, dass die Sektion Donauland den DuÖAV nicht freiwillig verlassen sollte, war eine außerordentliche Hauptversammlung beschlossen worden, auf der dann der Rauswurf erfolgen sollte. Da der freiwillige Austritt nicht erfolgte, wurde für den 14. Dezember 1924 diese Hauptversammlung nach München einberufen.

Als Taktik gibt der Vorsitzende des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, Dr. von Sydow, der in den ersten Jahren nach Gründung der Sektion Donauland zu den Befürwortern der Aufnahme dieser Sektion in den Gesamtverein gehört hatte, in der am Tag vor der Hauptversammlung tagenden Hauptausschusssitzung vor:

„Wir müssen aber ganz entschieden vermeiden, die antisemitische Seite zu berühren und müssen ausschließlich das Lebensinteresse des Vereins in den Vordergrund stellen. Ich bitte daher auch auf die österreichischen Vertreter einzuwirken, daß sie diesen letzteren Gesichtspunkt in den Vordergrund stellen. Die Veröffentlichung des österreichischen Sektionentages[5] ist in ihrem ersten Teil kein glücklicher Griff.“[6]

Damit soll die seit Gründung der Sektion Donauland bestehende antisemitische Hetze gegen diese Sektion ausgeblendet werden. Als Ausschlussgrund soll ausschließlich vereinsschädigendes Verhalten der Sektion zur Debatte stehen, u.a. der angeblich mehrfach erfolgte „Einbruch“ der Sektion in Arbeitsgebiete anderer Sektionen, besonders durch nicht genehmigten Hüttenerwerb und beim Wegebau.

Als eines dieser Fehlverhalten wird in der Ausschusssitzung die Sache Stilluppgrund genannt.[7]

Damit kommt die Sektion Kassel unter ihrem damaligen Vorsitzenden Dr. Alexander Jäckh ins Spiel, auch wenn der Vorfall Stilluppgrund letzten Endes nur eine Randerscheinung in der Donaulandaffäre ist.

Was war passiert?

Dr. Jäckh war in der Hauptversammlung 1923 in Bad Tölz zum Mitglied des wichtigen Hauptausschusses gewählt worden, dessen Aufgaben u.a. darin bestanden, die Hauptversammlung organisatorisch und inhaltlich vorzubereiten.

In dieser Funktion schrieb er mit Datum vom 22. Oktober 1924 den Hauptausschuss an:

„In Beantwortung des Schreibens des Herrn 1. Vorsitzenden vom 21.10.24 betr. die einberufene außerordentliche Hauptversammlung erkläre ich meine Zustimmung dazu, daß auf dieser außerordentlichen Hauptversammlung der Antrag auf Ausschluss der S. Donauland aus dem D.&Ö.Alpenverein gestellt wird.

Ich darf vielleicht bei dieser Gelegenheit einen Vorfall bekannt geben, den ich unterdessen über die Sektion Donauland in Erfahrung gebracht habe. Die Sektion Donauland hat versucht, ein kleines Berggasthaus bei der Taxach Alpe in der Stillupp, die Grünewandhütte, die der Jäger Hermann Thaler im letzten Jahr erbaut und in diesem Jahr eröffnet hat, von diesem käuflich zu erwerben und hat ihm dabei ein sehr vorteilhaftes Angebot gemacht. Wie mir der Jäger Thaler am 24.7. mündlich mitteilte, hat ihn der Vorstand der Sektion Zillertal, Herr Dr. Raitmayr in Mayrhofen, anscheinend auf Veranlassung einiger Herren der Sektion Innsbruck mit Erfolg dahin beeinflusst, diesen Verkauf an die Sektion Donauland abzulehnen.

Man wird ja der Sektion Donauland zu Gute halten müssen, dass sie nicht gewusst hat, dass die Sektion Cassel die Stillupp bereits als ihr Arbeitsgebiet sich gesichert hat.[8] Aber da der Sektion Donauland laut Beschluss des Hauptausschusses in seiner Ostersitzung mitgeteilt worden ist, dass es notwendig sei, sich vorher beim Hauptausschuss über die Zugehörigkeit der betr. Arbeitsgebiete zu erkundigen, so dürfte darin immerhin ein neuer Verstoss der Sektion Donauland zu erblicken sein.

Falls Näheres wissenswert erscheint, so wird sicher der Jäger Hermann Thaler, der bis Weihnachten in der Grünewandhütte bei Mayrhofen i. Zillertal wohnen wird, gerne Auskunft geben.“

Mit alpinem Gruß

ergebenst

Dr. Jäckh“[9]

Mit Schreiben vom 29. Oktober antwortete der Verwaltungsausschuss[10], eine andere wichtige Instanz des Hauptvereins, Dr. Jäckh, er habe beim Vorsitzenden der Sektion Zillertal entsprechende Unterlagen über diesen Fall angefordert.[11]

Das Schreiben an die Sektion Zillertal gibt den Inhalt des Briefs von Dr. Jäckh wieder und richtet sich dann an den Vorsitzenden, Herrn Dr. Lambert Raitmayr:

„Wir sind Ihnen dankbar, dass Sie sich um die Verhinderung des Planes der Sektion Donauland bemüht haben und möchten Sie bitten uns näheres über diesen Vorfall mitzuteilen, gegebenenfalls den Jäger Hermann Thaler über die näheren Umstände des Angebotes einzuvernehmen.“[12]

Mit Schreiben vom 11. November 1924 teilt der Hauptausschuss allen Sektionsleitungen mit, dass er den Ausschluss der Sektion Donauland beantragt und begründet ausführlich diesen Antrag, u.a. mit der Sache Stillupp:

„2. Obwohl die Sektion Donauland bereits auf Grund eines Beschlusses des Hauptausschusses in seiner Sitzung vom 17. und 18. April auf die Notwendigkeit hingewiesen war, sich vor[13] dem Erwerb von Arbeitsgebieten beim Hauptausschuss zu erkundigen, ob das für ihre alpine Betätigung in            Aussicht genommene Gebiet frei sei oder einer anderen Sektion ältere Rechte zukommen, hat sie im Sommer 1924 versucht, durch Ankauf einer Jagdhütte im Stilluppgrund in das Arbeitsgebiet der Section Cassel einzudringen.“[14]

Das Vorbringen des Kasseler Sektionsvorsitzenden Dr. Jäckh war also für bare Münze genommen worden, bevor überhaupt die Ermittlungsergebnisse in der Sache eingetroffen waren.

Diese kamen mit Schreiben von Dr. Raitmayr vom 13.11.1924 an den Hauptausschuss:

„Auf die Anfrage vom 29. Oktober l.J. können wir Folgendes mitteilen:

‚Der Vorsitzende der Sektion Cassel, Herr Dr. Jäckh, hat den Jäger Hermann Thaler missverstanden. Die Sektion Donauland hat sich niemals an Thaler gewendet um von ihm die Grünewandhütte bei der Taxachalm in der Stillupp zu erwerben.

Nur die Sektion Oberhollabrunn holte bei Thaler Erkundigungen über Verkaufsbedingungen ein, hat aber ebenfalls kein Angebot gemacht. Der Jäger Thaler denkt derzeit gar nicht daran seine Hütte zu verkaufen, da er dieselbe gebaut hat um seiner Familie wenigstens eine teilweise Versorgung zu           sichern, falls ihm bei Ausübung des Jagdschutzes etwas zustoßen sollte.

Wie das Gerücht über die Kaufabsichten der Sektion Donauland entstanden ist, kann sich der Jäger   Thaler selbst nicht erklären.‘

Diese Auskunft erhielt der Gefertigte vom Jäger Hermann Thaler, den er zu sich gebeten hatte, am 10. November l.J.“[15]

Das Schreiben Raitmayrs geht auch an Dr. Jäckh mit der Mitteilung:

„Sollte es sich wirklich um ein Missverständnis handeln, so wären wir genötigt, unseren eben an die Sektionen versandten Antrag auf Ausschluss der Sektion Donauland unter Ziff.III.2 für gegenstandlos zu erklären.“[16]

Jäckh rechtfertigt sich mit Schreiben vom 16. November 1924 an den Hauptausschuss:

„In Beantwortung des Schreibens vom 14. Nov. betr. Feststellung der Kaufversuche der S.   Donauland in der Stillupp erwidere ich ergebenst, daß es ausgeschlossen ist, daß ich den Jäger Hermann Thaler bei seinen Erzählungen, die er mir mündlich gemacht hat, missverstanden habe. Er erzählte mir, er hätte die Hütte schon verkaufen können, die Section Donauland hätte bei ihm angefragt; er glaube, er hätte dabei sogar ein gutes Geschäft machen können. Er sei aber von einigen Herren aus Innsbruck, die sich mit Herrn Dr. Raitmayr ins Einvernehmen gesetzt hätten, auf das Verhältnis der Section Donauland zum Alpenverein aufmerksam gemacht und aufgefordert worden, ja nicht auf das Anerbieten der Section Donauland einzugehen. Auf meine Frage, ob Herren von der Section Donauland bei ihm gewesen oder ob die Sache schriftlich gemacht worden sein, antwortete er „schriftlich“. Er kam auch später noch einmal auf die Sache zurück und meinte, da er das Interesse des Alpenvereins gewahrt habe, so müsse jetzt auch der Alpenverein für sein Berggasthaus Grünewandhütte etwas Propaganda machen.

Letztere Bemerkung könnte ja darauf hindeuten, daß Thaler durch seine Erzählung etwas herausschlagen wollte. Ich würde aber, so wie ich Thaler kenne, es nicht für möglich halten, daß er die ganze Geschichte frei erfunden hat. Über Kaufabsichten der Section Oberhollabrunn hat er mir nichts gesagt.

Mein Junge, der dabei war, weiß sich noch heute zu erinnern, wie ich Mund und Augen aufgerissen habe, als ich den Namen Donauland hörte.“[17]

Die Nachfrage des Verwaltungsausschusses bei der Sektion Oberhollabrunn hatte ergeben, dass tatsächlich für ein Sektionsmitglied, dass die Pacht oder den Kauf einer Hütte vorgehabt hatte, bei Thaler angefragt worden war. Thaler machte ein schriftliches Angebot, nannte seine Bedingungen und verwies auf die Eile, da sich noch Käufer von Alpenvereinen interessierten.[18]

Deswegen schließt der Hauptausschuss in einem Schreiben an Jäckh die Möglichkeit nicht aus, dass auch die Sektion Donauland Interesse gehabt haben könnte.[19]

Da Dr. Raitmayr in seinem Schreiben vom 13.11.1924 überhaupt nicht auf die angeblich von Thaler behauptete und von Dr. Jäckh gemeldete Intervention der „Innsbrucker Herren“  und seine eigene Beeinflussung des Thaler eingegangen ist, versucht der Verwaltungsausschuss auf anderem Wege Nachweise  zu erhalten, die sich gegen die Sektion Donauland verwenden ließen. Er schreibt den Vorsitzenden der Sektion Innsbruck, Universitätsprofessor Dr. Otto Stolz, an:

„Wir bitten sie zu versuchen, die Namen dieser Herren zu ermitteln und sie über den Hergang der Angelegenheit auszufragen und uns zu berichten. Es ist uns bekannt, dass der Sohn des Dr. Raitmayr Vorsitzender des Akademischen Alpenklubs war oder ist und dürften vielleicht diese Herren im Kreise dieses Klubs zu finden sein. Warum sich Dr. Raitmayr sen. über diese Sache in vollständiges Schreiben (sic!) hüllt, ist uns nicht erfindlich.“[20]

Und auch bei Dr. Raitmayr fragt der Verwaltungsausschuss noch einmal an, ob er den Thaler beeinflusst habe, den Verkauf  an die Sektion Donauland abzulehnen, ob ihn Herren der Sektion Innsbruck dazu veranlasst hätten und welches die Namen dieser Herren seien.

Professor Stolz von der Sektion Innsbruck antwortet gleich am nächsten Tag:

„Auf Ihr Schreiben vom 2. Dez. d.J. habe ich mich sofort mit Herrn cand. med. Raitmayr besprochen. Er teilte mir mit, daß sein Vater, Dr. R. Vorstand der S. Zillertal, tags vorher in Innsbruck gewesen ist und mit ihm über den Fall in folgendem Sinne gesprochen habe: Herr Dr. Raitmayr weiß gar nichts davon, daß ihm jemals der Jäger Thaler die Absicht, seine Hütte im Zillergrund der S. Donauland zu verkaufen, mitgeteilt und er ihm davon abgeraten habe. Daher ist auch über eine Beeinflussung des H. Dr. Raitmayr durch Herren aus Innsbruck in dieser Sache dem Herrn Dr. Raitmayr heute nichts bewußt. Erst auf die Anfrage des H.A. habe Dr. Raitmayr mit Thaler das erstemal darüber gesprochen und da habe ihm dieser dann den Namen der S. Oberhollabrunn genannt.

Wie Thaler zu seiner Aussage gegenüber Dr. Jäckh gekommen ist, ist daher völlig unerfindlich. Raitmayr jun. schildert mir den Thaler als einen echten verschlagenen Zillertaler, der vielleicht mit seiner Aussage gegenüber Dr. Jäckh nur den Wert seiner Hütte möglichst betonen wollte. Dann meinte wohl Raitmayr jun., daß sein Vater doch einmal mit Thaler über die Hütte gesprochen haben könnte, in ganz flüchtiger Weise, und daß er sich heute nicht mehr darauf besinnen könne. Vielleicht hat auch Jäger Thaler die S. Oberhollabrunn mit der S. Donauland verwechselt.

Jedenfalls liegt von dieser Seite kein Beweis vor, daß Donauland Verhandlungen mit Jäger Thaler über den Ankauf der Hütte gepflogen hat.

Mit alpinem Gruß

Innsbruck, 3. XII 1924                  Prof. Otto Stolz“[21]

Dr. Raitmayr antwortet eine Woche später, er habe Thaler selbst nicht mehr erreicht, dessen Frau habe aber behauptet, sie hätten nie mit der Sektion Donauland verhandelt. Er könne also nicht ergründen, wo die Wahrheit liege. Allerdings habe er im Mai ein Schreiben der Sektion Innsbruck erhalten, in dem bemerkt war, man habe erfahren, die Sektion Donauland wolle vom Jäger Thaler die Hütte auf der Taxachalm kaufen.

Thaler selbst äußert sich in einem Schreiben an Dr. Jäckh, der noch einmal bei ihm in der Sache angefragt hatte:

„ Taxach am 3/12 24

Sehr geehrter Herr Dr. Jäckh

voralem grüße ich Ihnen recht herzlich, und bitte um Verzeihung das ich sie so lange warten lies mit mein Schreiben

Den ich bin noch immer in Taxach und bin lange nicht auf Mayrhofen gekomen, so erhielt ich keine Bost.  ich habe Brief und Karte am 2/12 erhalten, Und teile ihnen mit, das mich Donauland nicht selbst ein angebot gemacht hat: Aber ich bin von einen Herrn ein gewisser Julius Gallian in Wien verstendtigt worden das Donauland will mein Haus kaufen.

Der Herr hat mich gebeten ich soll das nicht, dun und er wird sorgen wenn ich schon will verkaufen das es eine nicht Juden Sektion, sondern eine andere Sektion mir mein Haus abkaufen wird, ich habe mein Haus ja nit zum Verkauf gestellt und hofe das die Casseler bald meine Nachtbarn sein werden

Ich will ja nicht verkaufen und sonst würde sich wohl eine andere Sektion finden nicht Donauland

Also Lieber Herr Dr. Jäckh  ich grüße sie nochmal recht herzlich auf ein widersehen

Auch beste Grüße von meiner Frau und Kindern.“[22]

Jäckh, der nun ziemlich bloßgestellt ist, übersendet dieses Schreiben am 6. Dezember 1924 an den Hauptausschuss und zieht seine Schlüsse aus dem Brief:

„Anbei übersende ich ein heute eingegangenes Schreiben des Jägers Thaler ohne Unterschrift, aber auf dem Umschlag mit dem Absender gekennzeichnet.

In diesem Schreiben giebt er eine wieder veränderte Darstellung des Kaufangebotes und erweist damit seine Wahrhaftigkeit als nicht sehr zuverlässig.

Ich habe jetzt den Eindruck , daß er mit der mir o.Z. wesentlich anders gemachten Erzählung sich nur interessant machen und eine Empfehlung in wohlgesinnten Alpenvereinskreisen herausschlagen wollte.“[23]

Damit ist die Angelegenheit „Stilluppgrund“ als einer der Ausschlussgründe gegen die Sektion Donauland erledigt und muss zurückgezogen werden.

Schon wenige Tage später wird in der a.o. Hauptversammlung vom 14. Dezember 1924  schließlich die Sektion Donauland mit 1.236 gegen 190 Stimmen vom DuÖAV ausgeschlossen. Die meisten deutschen Sektionen geben ihren Widerstand auf, nachdem der Gesamtverein als Gegenleistung für die nächsten acht Jahre darauf verzichtet, den „Arierparagrafen“ einzuführen. Unter den Sektionen, die bis zum Schluss Widerstand geleistet haben, taucht Kassel nicht auf.

Im Archiv der Sektion gibt es keine Aufzeichnungen mehr darüber, wie sich die Sektion Kassel in den fast vier Jahre währenden Auseinandersetzungen positioniert hat. Erstaunlich ist nur, dass im Protokoll der Monatsversammlung vom 16. Dezember 1924 keine Erläuterungen auftauchen und auch keine Darlegungen, wie das Abstimmungsverhalten der Delegierten aus Kassel gewesen war.[24] Der Vorsitzende Dr. med. Alexander Jäckh muss in den Diskussionsprozess enger eingebunden gewesen sein, war er doch seit 1923 bis zu seinem Tod im Jahr 1927 Mitglied im Hauptausschuss gewesen, dem Gremium, in dem  Entscheidungsvorlagen für die Hauptversammlung vorbereitet wurden. Sein Verhalten in der Angelegenheit „Stilluppgrund“ legt aber nahe, dass er den Ausschluss der Sektion Donauland aus dem DuÖAV aktiv mitbetrieben hat.

[1]     Niederschrift über die Monatssitzung am 16. Dezember 1924, Archiv der DAV-Sektion Kassel

[2]     Zum intensiveren Studium wird empfohlen: Kundt, Klaus, „Juden und Mitglieder der Sektion Donauland unerwünscht“, in: DAV-Panorama, Februar 2002, S. 32 ff.; Mailänder, Nicholas, Die Donaulandaffäre des DuOEAV. Das dunkelste Kapitel unserer Vereinsgeschichte, in: DAV-Panorama, Februar 2007, S. 60 ff.; Berg Heil! Alpenverein und Bergsteigen 1918-1945. Herausgegeben vom Deutschen Alpenverein, vom Oesterreichischen Alpenverein und vom Alpenverein Südtirol, Köln, Weimar, Wien 2011, S. 231 ff.

[3]     Der ursprünglich sprachwissenschaftliche Begriff „arisch“ wurde im 19. Jahrhundert zunehmend rassentheoretish verwendet zur Abgrenzung von europäischen Völkern gegenüber den semitischen, insbesonderen den Juden

[4]     Denkschrift der Österreichischen Sektionen des D.u.Ö. Alpenvereins in der Angelegenheit „Donauland“ vom 16. November 1924, S. 2 (Bestand des Zentralen Archivs des Österreichischen Alpenvereins)

[5]     Gemeint ist die oben zitierte Denkschrift vom 16. November 1924

[6]     Protokoll der 32. Sitzung des Hauptausschusses des DuÖAV vom 13.12.1924

[7]     Vgl. ebenda

[8]     Im Jahr 1926 begann die Sektion Kassel dort den Bau ihrer Hütte, die 1927 eröffnet wurde.

[9]     Brief ist im Bestand des Zentralen Archivs des Österreichischen Alpenvereins

[10]   Aus den Quellen ist nicht immer ersichtlich, ob ein Schreiben vom Hauptausschuss oder vom Verwaltungsausschuss stammt. Ebenso wird nicht klar, wieso beide Gremien eingeschaltet waren.

[11]   Brief ist im Bestand des Zentralen Archivs des Österreichischen Alpenvereins

[12]   Brief ist im Bestand des Zentralen Archivs des Österreichischen Alpenvereins

[13]   Hervorhebung im Original

[14]   Antrag und Antragsbegründung sind im Bestand des Zentralen Archivs des Österreichischen Alpenvereins

[15]   Brief ist im Bestand des Zentralen Archivs des Österreichischen Alpenvereins

[16]   Brief ist im Bestand des Zentralen Archivs des Österreichischen Alpenvereins

[17]   Brief ist im Bestand des Zentralen Archivs des Österreichischen Alpenvereins

[18]   Brief ist im Bestand des Zentralen Archivs des Österreichischen Alpenvereins

[19]   Brief ist im Bestand des Zentralen Archivs des Österreichischen Alpenvereins

[20]   Brief ist im Bestand des Zentralen Archivs des Österreichischen Alpenvereins

[21]   Brief ist im Bestand des Zentralen Archivs des Österreichischen Alpenvereins

[22]   Brief ist im Bestand des Zentralen Archivs des Österreichischen Alpenvereins

[23]   Brief ist im Bestand des Zentralen Archivs des Österreichischen Alpenvereins

[24]   Dies ist umso verwunderlicher, als  beispielsweise die fast bei jeder Monatsversammlung stattfindenden Dia-Vorträge immer ausführlich mitprotokolliert worden sind.